Mr. Brown aus Cincinnati.

Humoreske von Teo von Torn
in: „Baltische Post”, Wochen-Beilage, vom 28.6.1914


Im Führerstübl neben der Hofeinfahrt zum „Blauen Hecht” war es gsteckt voll. Der Tabaksqualm lag so dick und schwer im Raum, daß die Hängelampe mit dem breitausladenden Blendschirm nur in den Konturen zu erkennen war. Wie grauer Chiffon hing der Rauch zwischen dem niedrigen Gebälk und an den Wänden über den vielen Hunderten von Ansichtskarten, mit denen dankbare Kraxler noch aus der Ferne und nach Jahren ihrer einigen [recte wohl: einstigen. D.Hrsgb.] Führer gedacht. Manche von den Adressaten hatten längst ihr Marterl an irgendeiner Schroffe oder hatten sonst den letzten großen Aufstieg gemacht, auf dem es keinen Knieschnackler, keine Schneeblindhit und kein Zurück gibt.

Immer war da noch eine erfreuliche Anzahl von der alten Garde: der Wetter-Franzl, der im linken Ellbogengelenk ein unfehlbares Barometer hatte, der bald fünfundsiebzigjährige Garmischer Sepp, der Rotbuchner Wastl, von dem die Rede ging, daß er noch nie eine Tour abgelehnt, auch die schwierigste nicht — wenn sie gut bezahlt wurde; und der Stonthofer Hias mit dem silbernen Kreuzel, das er vom Prinzregenten eigenhändig bekommen hatte und immer trug — auch zur Nacht, wie man sagt.

Der stattliche, vielversprechende Nachwuchs lauschte aufmerksam zu, wenn die Alten diskutierten: — über Lawinen und Steinschlag, über die Schutzhüttenmarder oder — wie eben — über den mißlichen Wandel der Zeiten und das unsichere Wetter, das so arg wenig Leut ins Oberland führt.

„Und dö, was kemma,” knurrte der eisgraue Sepp in sein zerbissenes Pfeifenmundstück, „ui jegerl! Dick san's und kurzlufti; knapp, daß's Schnauferl langt bis auf d' Ziesener Alm, wo's an Kas fressen und mit'r Nandl scharmuziern. Fall'n a poar Tropperl Regen, glei hocken's beisamm in der Wirtsstubn und schaun granti von herunter auf d'Berg. Und a Göld hams a net! Dö Amerikanerer, wann i denk — ui jegerl! So in dö fuchz'ger Joahr do hat fei nix g'fehlt am Oberland. Goldstückeln hat's geb'n wia Buxeknöpf. Mei Vatta seli — —”

„Guten Tag, meine Herren,” unterbrach eine muntere Mannesstimme von der Tür her.

„Grüaß Gott,” erwiderte der Kaßner Lips für alle, indem er sich erhob und dem Fremden entgegentrat; denn der Kaßner Lips hatte „dü schuer” und war der nächste dazu, wenn es was zu tun gab. Das war streng geregelt bei den Führersleuten. Und nur wenn ausdrücklich ein Bestimmter verlangt wurde, mußte der „Dü schuerer” zurücktreten. Das tat er natürlich nicht gern, und so zeigte sich der Kaßner Lips sehr höflich und dienstwillig. Er schob sogar seine Pfeife ins Wams, als er sagte: „Was schafft's, Eu'r Gnad'n?”

Der Fremde, ein junger Mann in eleganter städtischer Kleidung, drückte seinen Klemmer auf die Nase und blinzelte freundlich zu dem baumlangen Lips empor.

„Ich bin Mister Brown aus Cincinnati und möchte eine kleine Tour machen, mein Lieber.”

„Scho recht. No heut, Eu'r Gnad'n?”

„Nein. Das wäre zu spät. Morgen vor Tagesanbruch. Sagen wir: um halb drei.”

„Scho recht,” kratzfußte der Kaßner Lips. Inzwischen hatte er den kleinen, geschmeidigen Stadtfrack abtaxiert, was der wohl leisten könnte, und machte seine Vorschläge: „Auf'n Schutterer? Oder mögen's gar nach'm Eisklamm?”

Der Fremde schüttelte den Kopf.

„Auf die Jochwand möchte ich.”

Hätte er auf den Mond verlangt — die Leute im Führerstübl hätten nicht verdutzter dreinschauen können. Dem Garmischer Sepp war die Pfeife aus dem Mund gefallen. Nachdem sich der Lips erholt, kraute er sich mit der Riesenpranke hinterm Ohr.

„Sakra, sakra — dös werd i net schaff'n könna, gnä' Herr. I bin no net aufikraxelt —”

„Solang d'Welt steht, han a Stückener fünf Mann d' Jochwand g'schafft,” ließ der Stonthofer Hias sich vernehmen und spielte mit seinem Kreuzel; „drei dervon san net heimkemma; dä ander zwa san der Rotbuchner un i — un i mach net mit, net für a Göld. Wissen's. daß a Neuschnee liagt auf d'Wand?”

„Natürlich weiß ich das,” schmunzelte der Fremde. „Ebendeshalb möchte ich 'rauf. Wie lange hält sich hier dieser Schnee?”

„Bis a neucher fallt. — Mit Verlaub, wissen's, was dös hoaßt : auf d'Wand im Neuschnee? Und, mit Verlaub, ham's scho so a Stückl g'macht —?”

„Hier noch nicht. Aber in Amerika.”

Der Garmischer Sepp verlor abermals die Pfeife. Seine Augen weiteten sich, und der zahnlose Mund zischelte in Staunen und unbegrenzter Hochachtung: „Sakradixen — an Amerikanerer — — ”

Einige Augenblicke war es so still im Zimmer, daß man den Knisterbrand des Tabaks hörte. Dann reckte der Rotbuchner sich auf.

„Machst's net, Lips?” fragte er kurz.

„Na —”

„Also denn — i mach's , Herr. Aber dös kost a Göld. San hundert Markln z'vül?”

„Je nun — zu wenig gewiß nicht,” lachte der Fremde. „Aber ich will nicht handeln. Also morgen früh um halb drei — wenn das Wetter irgend danach ist.”

„Frag'n ma 'n Franzl!” sagte der Rotbuchner, nun feuereifrig. „Geh her, Franzl — wia schaugt's aus, morgen in der Fruah?”

Der Wetter-Franzl befühlte seinen linken Ellbogen und wiegte bedenklich das Haupt.

„Hagel gibt's und an starken Nebel. Uebermorgen — da is guat.”

„Schön, also dann übermorgen. Das is mir schon recht. Ich habe noch Verschiedenes zu besorgen und vorzubereiten. Wie heißen Sie?”

„I bin der Rotbuchner Wastl,” erwiderte der Führer, beinahe gekränkt, daß es jemand gab, der ihn nicht kannte. Aber das wetterharte Gesicht ward eitel Sonnenschein, als er eine blanke Doppelkrone zum Angeld erhielt.

— — —

Wie ein Lauffeuer war es durch Dorf gegangen, daß der junge Deutsch-Amerikaner, der beim Postwirt als Arthur H. Brown aus Cincinnati vor drei Tagen sich eingeschrieben, und der ein lieber, alleweil fideler Kerl war, die Jochwand besteigen wollte.

Von Stund an stand er im Mittelpunkt des Interesses — auch bei den Damen. Und unter diesen war es besonders Fräulein Klärchen Gutbar, die in ihrer romantischen Seele erschauerte, wenn sie der Gefahren dachte, denen der hübsche junge Mensch sich aussetzte. Und wohl gar ihretwegen — denn gestern war bei Tisch davon die Rede gewesen, daß auf der Jochwand wahre Beete von Edelweiß blühen sollten — — und sie hatte sich schwärmerisch eine Handvoll davon gewünscht.

Der Vater, dem sie ihre Besorgnis anvertraut, meinte allerdings, sie wäre ein eingebildetes Schaf. Aber hat ein Geschäftsmann, ein Fabrikant von Hustenbonbons und Malzpräparaten das rechte Gefühl für Poesie und Ritterlichkeit? Er wußte ja auch nicht, wie Arthur Brown ihr in die Augen gesehen hatte, als sie den Wunsch geäußert: — so tief, so — — so rückhaltlos verheißend. . . .

Schon am Vorabend des Aufstiegs war eine Aufregung und ein Menschengewühl im Dorf wie zur Kirchweih. Aus allen umliegenden Ortschaften, ja bis aus Gries und Tölz, waren Touristen und Einheimische gekommen, um die waghalsige Geschichte mit anzusehen. Das Für und Wider wurde lebhaft erörtert — und sogar Wetten wurden abgeschlossen. Die Sachkundigen und solche, die das sein wollten, waren sich darüber einig, daß es ein amerikanischer Spleen sei, die Jochwand zu erklimmen — und noch dazu bei Neuschnee.

Ueber diesem allgemeinen „Dischkrieren” war es so spät geworden, daß am Morgen beim Ausmarsch nur wenige aus den Federn gefunden hatten. Fräulein Klärchen Gutbar aber stand am Fenster — eine Hand auf dem klopfenden Herzen, die andere in Angst gegen den Mund gedrückt. Und er hatte richtig zu ihr aufgeschaut und sein Hütchen geschwenkt, der Unselige, der liebe — liebe Mensch . . . O Gott, und wie er bepackt war!

Als die zehnte Vormittagsstunde herannahte, die Zeit also, in der nach Aussage des Stonthofer Hias der Aufstieg vollendet sein mußte, wenn er überhaupt gelang, gab es nicht genug Fernrohre, Prismengläser und Feldstecher. Selbst winzige Theatergucker wurden hervorgeholt, und wer auch dessen ermangelte, der schwärzte ein Stück Glas, um die blendende Schneewand drüben andauernd beobachten zu können.

Da endlich meldete das längste Fernrohr die Tollkühnen in Sicht. Brausender Jubel ging durch die Menge. Aus Klärchen Gutbars blauen Augen rollten helle Zähren der Erleichterung und Glückseligkeit.

Bald darauf waren der Rotbuchner Wastl und dann der angeseilt Anerikaner auch durch schwächere Gläser zu erspähen — und man konstatierte, daß die beiden eine merkwürdig rege Tätigkeit entfalteten: — — — eine Art grauen Netzes oder Schleiers oder dergleichen rollten sie über den schräg abfallenden oberen teil der Wand hinab . . . .

Plötzlich ein Schuß, der drei-, vierfach im Echo widerdröhnte — gleichzeitig ein jähes Aufflammen des rätselhaften Schleiers — — und dann las ein jeglicher auch mit bloßem Auge in schwarzen Riesenlettern:

Antischnackelin,
das unerreichte Kräftigungsmittel für Bergsteiger !

und darunter in etwas kleinerer Schrift:

Neue amerikanische Schnee-Reklame.
Vertreter: Arthur H. Brown.

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Edelweiß hatte er nicht mitgebracht . . . .

Klärchen Gutbar würdigte den Unwürdigen natürlich keines Blickes — so sehr er sonst auch der Held des Tages war. Da aber Herr Kommerzienrat August Gutbar — in Firma Klümpers u. Gutbar, Hustenbonbons und Malzpräparate en gros — den smarten jungen Mann vom Fleck weg für die ganze nächste Saison engagierte, erscheint es nicht ausgeschlossen, daß sich Fräulein Klärchens Herzknacks noch einrenkt.

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